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Rio hob seine Neunmillimeter und richtete sie auf eine Zielscheibe am anderen Ende des Schießstandes. Die Waffe fühlte sich in seiner Hand verdammt fremd an, obwohl es doch seine eigene war, die er jahrelang getragen hatte und mit der er tödlich effizient gewesen war ... vorher.
Vor der Explosion der Lagerhalle.
Bevor seine Verletzungen ihn aus seinem Leben als Kämpfer gerissen und ihn auf ein Krankenbett geworfen hatten, Verstand und Körper zerbrochen. Bevor seine Blindheit gegenüber Evas falschem Spiel ihn dazu gebracht hatte, all das zu hinterfragen, was er war und jemals wieder sein konnte. Ein Schweißfilm überzog Rios Oberlippe, als er sein Ziel anvisierte. Sein Finger am Abzug zitterte, und er brauchte all seine Willenskraft, um sich auf die kleine Silhouette von Kopf und Schultern zu konzentrieren, die auf das Papier der Zielscheibe gedruckt war, in etwa zwanzig Metern Entfernung am anderen Ende des Schießstandes. Aber genau das war es, was er damit bezweckte. Nach dem, was vor wenigen Minuten mit Dylan geschehen war, brauchte Rio eine echte Ablenkung. Etwas, das seine vollständige Konzentration verlangte, ihn wieder runterbringen würde. Das hoffentlich den schlimmsten Hunger nach Sex, der selbst jetzt noch in ihm nagte, etwas dämpfen würde. Er wollte Dylan mit einer Begierde, die immer noch in einem tiefen, primitiven Rhythmus durch seine Venen dröhnte.
Immer noch konnte er ihren Körper spüren, wie er sich unter ihm bewegte, so weich und einladend. Wie sie so leidenschaftlich auf ihn reagierte. Sie nahm ihn so, wie er war, auch wenn er nur noch dazu imstande war, neben ihrer Schönheit das Biest zu spielen.
Es war eine Fantasie, die er sich erlaubt hatte, als er Dylan küsste, als er sie unter sich gedrückt und sich gefragt hatte, ob die intensive Anziehung, die er spürte, nicht doch womöglich gegenseitig war.
Niemand konnte so schauspielern. Eva hatte einst behauptet, ihn zu lieben. Die Tiefe ihres Verrats war ein Schock gewesen, aber irgendwo in seinem Hinterkopf hatte er gewusst, dass sie mit ihm und seinem Kriegerleben nicht so glücklich gewesen war wie er.
Sie hatte nicht gewollt, dass er dem Orden beitrat. Sie hatte nie sein Bedürfnis verstanden, etwas Gutes und Nützliches zu tun. Oft hatte sie ihn gefragt, warum sie ihm nicht ausreichte. Warum es ihm nicht genug sein konnte, sie zu lieben und glücklich zu machen. Er hatte beides gewollt, aber selbst sie hatte sehen können, dass der Orden ihm wichtiger war.
Rio konnte sich immer noch an die Nacht erinnern, als er mit Eva in einem Park in der Stadt umhergeschlendert war und auf einer kleinen Brücke über dem Fluss Fotos von ihr gemacht hatte. In dieser Nacht hatte sie ihm gesagt, wie sehr sie sich wünschte, dass er den Orden verließ und ihr ein Baby schenkte. Forderungen, denen er nicht nachkommen konnte - oder vielmehr wollte.
Lass uns Zeit, hatte er ihr gesagt. Die Krieger waren damit beschäftigt gewesen, die zunehmenden Rogueaktivitäten in der Region unter Kontrolle zu bekommen, und so hatte er sie gebeten, Geduld zu haben. Sobald die Dinge sich beruhigt hätten, könnten sie vielleicht über eine Familie nachdenken.
Im Nachhinein war er sich nicht sicher, ob es ihm damit ernst gewesen war. Eva hatte ihm nicht geglaubt. Das hatte er in ihren Augen gesehen, selbst damals schon. Zur Hölle noch mal, vielleicht war das genau der Moment gewesen, als sie beschlossen hatte, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Er hatte Eva im Stich gelassen, und er wusste es. Aber sie hatte es ihm übel heimgezahlt. Ihr Verrat hatte ihn in den Grundfesten seiner Seele erschüttert. Er hatte ihn dazu gebracht, alles zu hinterfragen, einschließlich dessen, warum - verdammt noch mal - jemand wie er überhaupt auf der Welt war.
Als Dylan ihn geküsst hatte - als sie ihm direkt in die Augen gesehen hatte und in ihren Augen nichts als die reine Ehrlichkeit zu lesen war -, konnte Rio glauben, zumindest einen Moment lang, dass er nicht einfach nur ein jämmerlicher Versager war, an den selbst die Luft zum Atmen verschwendet war. Als er in Dylans Augen geblickt und ihre liebevollen Hände auf seinen Narben gespürt hatte, konnte er glauben, dass das Leben vielleicht doch noch lebenswert war.
Und er war ein egoistischer Mistkerl, zu denken, dass er einer Frau wie ihr irgendetwas zu bieten hatte. Das Leben einer Frau hatte er schon zerstört und fast auch sein eigenes; mit Dylans Leben würde er das nicht noch einmal riskieren.
Rio machte die Augen schmal, als er die Zielscheibe am anderen Ende des Schießstandes fixierte, und zwang die Hand, die die Pistole hielt, zu einem eisernen, ruhigen Griff. Er drückte ab und spürte den vertrauten Rückstoß, als die Beretta feuerte und eine Kugel in den innersten Ring der Zielscheibe jagte.
„Schön zu sehen, dass du deine Treffsicherheit nicht verloren hast.
Voll ins Schwarze, wie immer.“ Rio legte die Waffe vor sich auf dem Gestell ab. Als er sich umdrehte, sah er, dass Nikolai hinter ihm stand, den breiten Rücken gegen die Wand gelehnt.
Rio hatte gewusst, dass er nicht allein war; er hatte Niko und die drei anderen unverheirateten Krieger am anderen Ende der Trainingshalle reden hören, als sie ihre Waffen reinigten und ihren spätnächtlichen Beutezug in dem Club rekapitulierten.
„Wie war die Jagd an der Oberfläche?“
Niko zuckte die Schultern. „Wie üblich.“
„Heiße Bräute, die nicht so viel Grips haben wegzurennen, wenn sie dich kommen sehen?“, fragte Rio, ein zaghafter Versuch, das Eis zu brechen, das seit seiner Ankunft im Hauptquartier zwischen ihnen stand.
Zu seiner Erleichterung lachte Niko leise in sich hinein. „Ich hab nichts gegen leichte Mädels. Mann. Vielleicht solltest du nächstes Mal mitkommen. Ich kann dich mit einem süßen Mädchen zusammenbringen, das es faustdick hinter den Ohren hat.“ Grübchen erschienen in seinen schmalen Wangen. „Du weißt schon, wenn du nicht gerade vorhast, dich umzubringen oder so. Du verdammter Idiot.“
Er sagte es ohne Bitterkeit, nur mit dem düsteren Wissen eines Freundes, der sich um ihn sorgte.
„Ich lass es dich wissen“, sagte Rio, und nur an der Art, wie Niko die Augen schmal machte, sah er, dass der Krieger verstand, dass er nicht von der Aussicht auf etwas Action an der Oberfläche redete.
Nikos Stimme senkte sich zu einem vertraulichen Ton. „Du darfst sie nicht gewinnen lassen, weißt du? Denn genau das heißt aufgeben.
Okay, sie hat dich übel beschissen, und ich sage nicht, dass du jetzt vergeben und vergessen sollst, denn ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich das an deiner Stelle könnte. Aber dich gibt's immer noch. Du bist immer noch da. Also scheiß auf sie“, sagte Niko barsch. „Scheiß auf Eva. Und auf die Bombe, die in dieser Lagerhalle hochgegangen ist.
Denn du, mein Freund, bist immer noch hier.“
Rio knurrte höhnisch, aber es war ein schwaches Geräusch, und die Kehle wurde ihm eng. Er räusperte sich und fühlte sich verdammt befangen angesichts der Erkenntnis, wie viel es ihm bedeutete, dass jemand sich um ihn Sorgen machte. „Verdammt, Amigo. Wie viele Folgen von Oprah hast du dir reingezogen, seit ich fort war? Aus deinem Mund war das wirklich bewegend.“ Niko gluckste. „Wenn ich's mir recht überlege, vergiss einfach, was ich eben gesagt habe. Scheiß auch auf dich.“ Rio lachte, das erste wirkliche Lachen, das aus seinem Mund kam seit ... Himmel, seit einem ganzen Jahr.
„Hey, Niko.“ Vom anderen Ende des Trainingsareals kam Kade herangeschlendert, das schwarze stachelige Haar und die scharfen silbernen Augen gaben dem Mann aus Alaska ein wildes, wölfisches Aussehen. „Ich hau mich aufs Ohr. Wenn uns heute Abend wieder dieser andere Rogue aus den Dunklen Häfen über den Weg läuft, dann vergiss nicht, das ist meiner. Du hast es versprochen.“
„Wenn ich den Blutsauger nicht zuerst erwische“, warf Brock ein, der hinter den anderen Krieger trat und lächelte, während er spielerisch die Klinge eines riesigen Dolches unter Kades Kinn legte. Brocks tiefes, dröhnendes Lachen klang gutmütig, aber es war unbestritten, dass der Krieger, den der Orden aus Detroit rekrutiert hatte, im Kampf so grimmig und gründlich war wie der Sensenmann persönlich. Er ließ Kade los, und während die beiden aus dem Waffenraum zu ihren eigenen unterschiedlichen Ecken des Hauptquartiers gingen, diskutierten sie weiter darüber, für wen genau dieser Rogue reserviert war.
Chase war der Letzte, der aus dem hinteren Teil des Trainingsareals kam. Sein schwarzes T-Shirt hatte vorne einen langen Riss, offenbar war es hoch hergegangen. Der Sättigungsgrad seiner Dermaglyphen und sein entspannter Blick ließen vermuten, dass er heute Nacht bei den Clubgirls in jeder Hinsicht auf seine Kosten gekommen war.
Er nickte Rio leicht zur Begrüßung zu und sprach dann mit Nikolai.
„Wenn du noch was von Seattle hörst, sag mir Bescheid. Ich frage mich wirklich, wie die Agentur einen Mord dieser Art noch nicht bestätigen konnte.“
„Ja“, sagte Niko. „Das wüsste ich auch gern.“
Rio runzelte die Stirn. „Wer ist in Seattle getötet worden?“
„Eines der ältesten, ehrenwertesten Mitglieder des dortigen Dunklen Hafens“, sagte Niko. „Der Typ war Gen Eins.“
Angesichts dieser Neuigkeiten stellten sich Rios Nackenhaare auf.
„Wie wurde er getötet?“
Nikolais Blick war ernst. „Kugel ins Hirn. Kopfschuss aus allernächster Nähe.“
„Wo?“
„Im Allgemeinen befindet sich das Hirn im oberen Kopfbereich“, meinte Chase gedehnt, die mächtigen Arme über der Brust verschränkt.
Rio warf ihm aus schmalen Augen einen finsteren Blick zu. „Danke für die Lektion in Anatomie, Harvard. Ich meine, wo war dieser Gen Eins, als er erschossen wurde?“
Niko begegnete Rios ernstem Blick. „Auf dem Rücksitz seiner Limousine mit Chauffeur. Mein Kontaktmann sagt mir, dass der arme Kerl gerade von der Oper kam oder vom Ballett oder irgend so was, und als er an einer Ampel wartete, hat ihm jemand eine Kugel in den Kopf gejagt und ist verschwunden, bevor der Chauffeur auch nur gecheckt hat, was eigentlich passiert ist. Warum?“
Rio zuckte die Schultern. „Vielleicht ist es nichts, aber als ich in Berlin war, hat Andreas Reichen mir von einem Mord an einem Gen Eins erzählt, der neulich da drüben passiert ist. Einer von seinen älteren Herren aus seinem Dunklen Hafen hat in einem Blutclub den Löffel abgegeben.“
„Diese privaten Sportclubs sind doch schon seit Jahrzehnten verboten“, sagte Chase.
„Genau“, sagte Rio sarkastisch. Der ehemalige Agent der Dunklen Häfen führte sich offenbar absichtlich wie ein Idiot auf. „Deshalb drucken sie die Einladungen mit unsichtbarer Tinte, und man braucht einen geheimen Decoder-Ring, um reinzukommen.“
„Gleiche Vorgehensweise bei dem Gen Eins in Berlin?“, fragte Niko.
„Nein, keine Schussverletzung. Laut Reichens Quellen hat dieser Sportsfreund seinen Kopf verloren.“ Niko stieß einen leisen Pfiff aus.
„Das sind zwei der drei sichersten Möglichkeiten, einen Gen Eins umzulegen. Nummer drei ist UV-Licht, und, wenn wir ehrlich sind, ist das am ineffektivsten, es sei denn, man kann sich ganze zehn oder fünfzehn Minuten Zeit lassen.“
„Die beiden Morde müssen nicht miteinander zusammenhängen“, sagte Rio, der sich sowieso nicht sicher war, ob er sich in dieser Frage auf seinen Instinkt verlassen konnte. Aber, verdammt noch mal, in seinem Kopf gingen Alarmglocken los wie im Glockenturm einer Kathedrale am Ostersonntag.
„Da ist was im Gange“, sagte Chase und hörte nun endlich mit dem Getue auf. „Mir gefällt das auch nicht. Zwei tote Gen Eins in, wie lange?
Einer Woche? Und beide Male sieht es nach Hinrichtung aus?“
„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen“, meinte Niko vorsichtig.
„Denkt doch mal nach, wie unwahrscheinlich das ist. Wenn du seit tausend Jahren lebst, musst du irgendwem mal ans Bein gepisst haben. Jemand, der dich dann auf dem Rücksitz deiner Limousine abknallt oder dich in einem Blutclub guillotiniert.“
„Und die Dunklen Häfen wollen in beiden Fällen nicht, dass die Morde an die Öffentlichkeit dringen?“, fragte Rio.
Chases lohfarbene Augenbrauen senkten sich. „Berlin vertuscht das auch?“
„Ja. Reichen sagte, sie wollen einen Skandal vermeiden. Macht sich ja nicht gerade gut, wenn eine der wichtigsten Stützen deiner Gemeinschaft in einem Sportclub voll ausgebluteter toter Menschen umgelegt wird.“
„Macht sich ganz und gar nicht gut“, stimmte Chase ihm zu. „Aber zwei tote Gen Eins, das ist für das ganze Vampirvolk ein empfindlicher Schlag. Es können in der ganzen Vampirbevölkerung nicht mehr als zwanzig sein, die aus der ersten Generation noch leben - einschließlich Lucan und Tegan. Wenn die einmal weg sind, sind sie weg.“
Nikolai nickte. „Das stimmt. Und es ist nicht so, dass wir neue machen könnten.“
Da fuhr Rio plötzlich ein Gedanke kalt wie Eis in den Magen. „Es sei denn, wir hätten einen überlebenden Alten, eine Stammesgefährtin und etwa zwanzig Jahre Vorsprung.“
Beide Krieger sahen ihn mit ernsten Mienen an.
Niko fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar. „Ach du Scheiße. Du denkst doch nicht ...“
„Ich bete zu Gott, dass ich mich täusche“, sagte Rio. „Aber wir sollten besser Lucan wecken.“